
Gestern war ich auf einem Konzert und hörte, wie am Ende der Darbietung sich eine begeisterte Zuhörerin mit einem der Gitarristen unterhielt. Sie lobte sein Talent und bekundete wie sehr sie dieses Instrument liebte und selbst gerne das Spiel darauf beherrschen würde. „Wenn ich erst im Ruhestand bin, dann lerne ich das auch!“, beteuerte sie.
Diese Worte stimmten mich am nächsten Tag sehr nachdenklich. Wie oft habe ich mich das schon sagen hören: „Wenn ich Zeit habe, wenn dies oder wenn das eintrifft…“
Ich erinnere mich zurück, als ich ein kleines Mädchen war und alle meine Ideen meiner Mutter präsentierte. Die realitätsnahe und praktische Frau, die mich und damals noch meinen beiden Schwestern, die Aufgabe hatte uns auf einen soliden Pfad zu führen, konnte sich für meine „Gehirnfürze“ nicht sonderlich begeistern. Sie überzeugte mich damit, dass man 1. Als Schauspielerin kein Geld verdienen kann und 2. Schauspieler alle exzentrisch wären.
Auf meine Frage: „Was ist exzentrisch?“
Antwortete sie nach längerer Überlegung, wie sie das am besten einer Zweitklässlerin erklären sollte: „Na, gspinnat halt.“
Als Kind wollte ich das keinesfalls sein, aber wenn ich mir das heute überlege, hätte der Berufszweig eigentlich sehr gut gepasst.
Nachdem das also nicht geklappt hatte, schwenkte ich um auf Sängerin. Weil ich in Heintje verliebt war, ging ich zu meiner Mutter, die gerade in der Küche beschäftigt war und schmetterte mit ganzer Kraft das Lied „Mama“. Ich hoffte inständig, dass ich sie jetzt überzeugt hatte, dass aus mir einmal ein großer Star werden würde. Doch ihr skeptischer Blick und das Kichern meiner älteren Schwestern hatte mich rasch auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Natürlich machte sich auch schon zu der damaligen Zeit meine Mutter Gedanken, wie sie meine Interessen fördern könnte. Doch als sie mir dann angeboten hatte mit meiner Tante, die eine sehr fleißige Kirchengängerin gewesen war, in den Kirchenchor mitgehen zu dürfen, verabschiedete ich mich schnell von diesem Vorhaben.
Ein paar Jahre später, als eine Mitschülerin ihre Gitarre zum Gesangsunterricht mitgebracht hatte, wollte ich unbedingt auch dieses Instrument spielen. Begeistert ging ich wieder nach Hause und stellte mein neues zukünftiges Hobby vor. Dass ich als Gitarristin einmal Geld verdienen könnte, glaubte ich dann selbst nicht mehr. Wie gesagt, meine praktisch veranlagte Mutter, die nicht davon überzeugt war, dass ich dieses Hobby auch durchhalten würde, besorgte mir von einem Bekannten eine Erwachsenen Schlaggitarre bei der ich große Mühe hatte mit meinen kurzen Armen das Instrument zu umgreifen. Ich beneidete meine Klassenkameradin um ihre neue kindgerechte Wandergitarre, auf der sie so schön spielte. Wir hatten nicht viel Geld und der Privatunterricht bei meinem Musiklehrer kostete auch 20,00 Mark im Monat. Ich kann mich heute noch gut daran erinnern, wie er meine Finger mit den Worten: „Du musst fester greifen!“, auf die Saiten drückte bis ich Blasen hatte. Meine Mutter hatte wie immer Recht und das Schlaginstrument konnte an den Besitzer sehr bald wieder zurückgegeben werden.
Als mein kleiner Bruder größer und noch ein Junge dazugekommen war, hatte meine Mutter noch weniger Zeit für meine besonderen Anliegen. Nur einmal noch malte ich auf acht mit jeweils vier zusammengeklebten Zeichenblockseiten zwei großformatige Bilder mit Wasserfarbe, die mir ein Verwandter auf jeweils zwei Pressspanplatten aufklebte. Auf dem einen war ein Hund und auf dem anderen eine Katze, die ich von Postkarten abgemalt hatte und an die Wände meines Kinderzimmers nagelte. In einem Buch hatte ich gelesen, wie man anhand von einem Raster Kleinformatiges auf ein größeres Format übertragen konnte. Ich war sehr stolz auf das Ergebnis. Ich erhielt von den Familienmitgliedern auch Lob, aber es war halt brotlose Kunst. Mit vierzehn wurde ich dann doch plötzlich gefragt, was ich denn für einen Beruf ergreifen wollte. Doch alles was ich nannte wie zum Beispiel Fotografin oder Schaugewerbegestalterin, denn ich hatte ja aus der Vergangenheit gelernt, waren nicht solide genug. Deshalb war ich ziemlich begeistert als die freundliche Dame vom Arbeitsamt mir einen Berufsvorschlag als Musterzeichnerin angeboten hatte. Das ich da in einer Fabrik arbeiten hätte müssen, hat mich wegen der Bezeichnung „Zeichner“ nicht abgeschreckt. Ich machte mich also sofort daran eine Bewerbungsmappe zusammenzustellen. Leider hatte mir damals niemand gesagt, dass zeichnen und malen zwei grundverschiedene Dinge sind. Ich bekam also meine Bewerbungsmappe mit der Absage, dass es nicht zum Berufsbild passen würde, zurück. Wahrscheinlich war mein Schweinchen Dick doch nicht so gut in der Personalabteilung angekommen. Am Ende der neunten Klasse Hauptschule war ich dann eine der wenigen, die noch keinen Ausbildungsplatz hatten. Um meine Eltern nicht zu enttäuschen bewarb ich mich auf Anraten meines Klassenlehrers bei der Sanitär- und Heizungsfirma gleich in Wohnnähe als Bürokauffrau. Dort wurde ich genommen.
Schon sehr früh verpufften die Kinderträume zwischen mechanischer Schreibmaschine und einem cholerischen Chef. Ich wurde schnell erwachsen und selbständig. Doch um ein eigenständiges Leben in einer eigenen Wohnung mit einem eigenen Auto führen zu können brauchte ich Geld. Die Falle des soliden Lebens schnappte zu und ich war in der Tretmühle gefangen. Und da waren sie, die Ausreden das zu tun, was mich wirklich begeisterte. Es hatte sehr lange gebraucht, bis ich zu meinen Kindheitsträumen zurückgefunden hatte und wenn ich es nicht angepackt hätte gäbe es heute keine Bilder von mir und auch keine Bücher. Aus heutiger Sicht kann ich nur sagen, dass ich damit die beste Entscheidung meines Lebens getroffen habe.
Die Antwort des Gitarristen an die Frau, die erst im Ruhestand mit dem Erlernen des Instrumentes beginnen wollte war: „Es ist nie zu spät etwas zu lernen. Man kann das jederzeit in jedem Alter.“
Damit hat er wirklich recht, doch ich würde noch hinzufügen: „Aber man sollte es nicht auf die lange Bank schieben und gleich damit anfangen!“ Aus eigener Erfahrung weiss ich nämlich, dass wenn man zu lange wartet es manchmal nicht mehr umsetzbar ist. So hatte ich mir vor vier Jahren eine Gitarre gekauft, denn ich wollte dieses Instrument auch wieder spielen können. Doch ein übler Ausschlag an meinen Fingern haben mir das Projekt vereitelt. Die Haut an meinen Händen ist im Alter so empfindlich geworden, dass ich keine Saiteninstrumente mehr spielen kann.
Bis zu meinem Ruhestand jedoch habe ich bestimmt nebenbei drei Bücher geschrieben.