Der Drache
Eine steife Brise weht um den Häuserblock und zerrt an den sich noch krampfhaft festhaltenden Blättern der Baumkronen die sich in den Grünanlagen dem Herbstwind entgegenstrecken. Ela schaut abschätzend aus dem Wohnzimmerfenster im 2. Stock. Von dort kann sie die Wiesen und Felder sehen, die sich hinter den Häusern befinden. Sie kneift die Augen zusammen um in der Ferne ausmachen zu können, ob sich dort schon andere Kinder aufhalten. Ela ist freudig aufgeregt, denn heute muss sie keinen ihrer Freunde fragen, ob sie deren Schnur auch einmal halten darf. Jetzt hat sie selbst einen Drachen. Papa hat ihn heute nach der Nachtschicht an der Tankstelle gekauft. Ela steht auf Bunt und hätte sich einen anderen Drachen ausgesucht, aber sie war trotzdem sehr glücklich über dieses Mitbringsel und das Papa doch aufgepasst hatte, was ihr am Herzen gelegen war. Im Kinderzimmer hatte sie ihn sofort ausgepackt um sicher zu sein, falls sie beim Zusammenbau eventuell Hilfe brauchte. Doch sie hatte es ganz alleine geschafft. Es war ganz einfach gewesen. Sie musste nur die losen beiliegenden Holzstäbe in die Plastikkapseln einstecken. So wie es auf der Bauanleitung abgebildet war. Ihr neuer Drache hatte eine ziemlich große Spannweite und bedeckte beinahe ihren gesamten Oberkörper. Auf der durchsichtigen Plastikfolie klebte eine weitere Folie, die einen Steinadler abbildete.

Drachenflug
Ela hat gesehen, dass Tobi mit seinem Drachen in Richtung der Felder läuft. Sie kennt ihn aus der Schule, denn er geht wie sie in die vierte Klasse. Doch jetzt sind Ferien und danach kommen sie schon in die Fünfte. Als sie zur Wohnungstür hinauseilt, muss sie ihren Drachen schräg halten um die Tür passieren zu können. Sie poltert die Stufen hinunter und rennt Tobi hinterher. Der Wind presst den Drachen an Elas Körper und sie hat Mühe ihren Adler zu bändigen. Deshalb holt sie Tobi erst auf der Wiese ein. Es sind schon ein paar andere Kinder da und umringen Ela. Sie bestaunen ihren neuen Drachen und Peti, der kleine Bruder von Tobi fragt: „Darf ich ihn auch mal halten?“
Tobi ist skeptisch: „Der hält nicht lange. Plastik geht schnell kaputt.“
Doch das ist Ela egal. Fachmännisch legt sie ihren großen Vogel auf den Boden und entfernt sich ein paar Meter mit der Spule in der Hand, von der sie beim Rückwärtsgehen die Schnur abspult.
„Hilfst du mir beim Steigen lassen?“, ruft sie Tobi zu.
„Ja. Klar,“ antwortet er. Geübt hebt der Junge den Drachen auf und hält ihn am Holzkreuz fest.
„Du musst jetzt die Schnur spannen und wenn ich „Lauf“ rufe, dann renn los!“
Ela nickt und wartet auf das Zeichen.
„Lauf!“
Ela dreht sich um und rennt. Es schnalzt, als Tobi den Drachen loslässt. Ela stoppt und dreht sich um. Der Drache trudelt und rast kopfüber auf den Boden zu.
„Mist, das war zu früh,“ schimpft sich Ela selbst.
„Nochmal!“, jauchzt Peti, der alles beobachtet
Dieses Mal läuft Ela weiter und blickt sich erst über die Schulter, als sie spürt, dass der Drache nach mehr Leine verlangt. Beinahe wäre sie beim Umschauen gestolpert, weil sie die Grasmulde nicht gesehen hatte. Sie bleibt stehen und reißt kurz an der Leine. Das gibt dem Adler neuen Aufwind und er steigt höher und höher. Erhitzt und außer Atem lacht sie in den Himmel. Dort oben schaut ihr Adler fast wie ein echter Greifvogel aus. „Ob sich die Mäuse jetzt fürchten?“, denkt sie. Jetzt hat sie Zeit die Drachen der anderen Kinder genauer zu betrachten. Tobis Flugdrache ist rot, blau und grün und hat einen langen bunten Schweif. Peti darf ihn gerade halten. Ein anderes Mädchen, das Ela nicht kennt hat einen Schmetterling. Etwas weiter weg versucht gerade ein Kind, ohne großen Erfolg, seinen Drachen steigen zu lassen. Tobi und Ela halten Abstand, damit sich die Schnüre ihrer Flugobjekte nicht verfangen können. Ela weiß, dass man sich auch vor den Strommasten und Bäumen in Acht nehmen sollte, wenn man seinen Drachen heil wieder mit nach Hause nehmen möchte.
Drachenlandung
Die Zwanzig-Meter-Schnur an Elas Kurbel ist jetzt komplett abgespult. Sie zieht und pumpt an der Schnur und der große Vogel, der nun so klein wie eine Taube erscheint, dreht einen Kreis. Immer besser wird ihr Gefühl für die Handhabung des Fluggerätes. Sie zieht die Spule zu Boden und stellt ihren Fuß darauf. So können ihre Hände sich vom Festhalten erholen. Tobi macht das jetzt genauso. Sie lachen sich zu. Ela spürt über die Schnur den Wind und hört wie die Adlerfolie knattert. Sie blickt nach oben und sieht, wie ein echter Vogel versucht, den Adler zu attackieren. „Schau mal Tobi. Ein Vogel greift meinen Adler an.“
„Hol ihn schnell runter!“, ruft Peti entsetzt.
Ela und Tobi müssen über den kleinen Bruder lachen.
Tobis Hose hat am Knie einen Grasfleck. Seine Wangen sind gerötet und die Haare kleben an seiner Stirn. Langsam holt er seinen Drachen zurück.
„Hast du keine Lust mehr?“, fragt Ela.
„Nein. Mir tut schon der Nacken weh vom vielen in die Luft schauen.“
„Ja. Mir auch,“ stellt Ela fest und kurbelt langsam die Schnur zurück auf die Spule.
Der Adler setzt sich zur Wehr, als ihn Ela einholt. Er dreht einen Looping und beinahe wäre er abgestürzt. Gerade noch konnte sie ihn abfangen. Jetzt sind es nur noch ein paar Meter bis er ganz unten angekommen ist. Er dreht nochmals eine kleine Schleife und landet ganz sanft im Gras.
„Super Landung Ela,“ lobt sie Tobi, dessen Drache nicht ganz so sachte zu Boden gekommen war. Gemeinsam mit ihren Drachen laufen sie nach Hause und verabreden sich für den nächsten Tag.
Dekodrache
Fünfzig Jahre später. Es ist Herbstanfang und ich, Ela, hole meine drei kleinen Dekoholzdrachen aus dem Keller. Während ich sie im Wohnzimmer aufhänge, denke ich an meinen ersten und letzten Drachen, der tatsächlich die Saison nicht überlebt hatte. Ich höre Kinderlachen, spüre den Wind um meine Nase wehen, rieche das frische Gras der Wiese und sehe meinen Adler kreisen, immer höher und höher in die Lüfte aufsteigen, bis nur noch ein kleiner Punkt am Firmament zu sehen ist. Manche Dinge vergisst man eben nie.
