Hilferuf
„Was ist das für ein Geschrei?“, dachte ich mir als ich am Samstag in den frühen Morgenstunden von einem undefinierbaren Geplärr vor meinem Schlafzimmerfenster aufwachte. „Ein Baby?“, fragte ich mich schlaftrunken. „Nein, hört sich eher nach einer Katze an,“ dachte ich während ich wieder in den Schlaf zurücksank. Ein paar Stunden später, als ich mich dann aus meinem Bett geschält hatte und am Wohnzimmerfenster die Rollos hochzog, vernahm ich wieder dieses laute, sehr intensive Jammern. Nun war ich mir sicher, dass es sich um eine Katze handeln musste. Neugierig geworden, öffnete ich meine Terrassentür und sagte: „Ja, was ist denn da los? Wer schreit denn da so?“ Kaum hatte ich das ausgesprochen streckte auch schon eine schwarze Katze, die gerade versuchte, vom Nachbarn erhört zu werden, ihren Kopf durch die Hecke. Sie blickte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Mein erster Gedanke gehörte dem Kater Damian, dem ich im Sommer geholfen hatte, seine Familie wieder zu finden. Aber ich erkannte schnell, dass er es nicht war. Ich hatte die Worte, „na wer bist denn du, wem gehörst du denn?“, noch nicht ganz ausgesprochen, rannte sie auch schon schnurstracks auf mich zu. In ihrem Gesicht glaubte ich zu lesen, dass sie sich über die Aufmerksamkeit, die ich ihr schenkte, riesig freute. Bei den geweiteten Pupillen hatte ich den Eindruck, als ob sie sagen würde: „Juchuu, endlich ein Mensch, der sich meinem Problem annimmt.“ Sie setzte sich vor mich hin und gab seltsame Laute von sich, so als ob sie versuchte, mit mir zu sprechen. Das hörte sich sehr lustig an. Ich beugte mich zu ihr und streichelte sie. Diese freundliche Geste meinerseits erwiderte sie mit Schmeicheleien um meine Beine. Bevor ich mir überlegen konnte, wie ich mit ihr vorgehen sollte, war sie auch schon in meinem Wohnzimmer und machte keine Anstalten wieder zu gehen. Sie fing an den Raum zu erkunden. Ich ließ sie gewähren, sorgte mich aber gleichzeitig um meinen Kater Charly. Schließlich wusste ich noch vom letzten Gast seiner Art, dass er darüber nicht sehr erfreut war.

Die Selbstbewusste
Charly lag auf seinem Kratzbaum und beobachtete mit erhobenem Kopf den schwarzen Pelz, wie er sein Revier durchstreifte. Ich streichelte meinen Kater, redete ihm gut zu und versuchte ihm die Anspannung zu nehmen. Diesen Stress wollte ich ihm eigentlich ersparen, aber die Schwarze war so lieb und tat mir leid. Draußen war es kalt und ich vermutete aufgrund ihres Geplärrs, dass sie Hunger hatte. Ihre Körpersprache zeigte nur zu deutlich, dass sie jemanden brauchte, der sich um sie kümmerte. Also ging ich in die Küche um eine Dose zu öffnen. Mit erhobenem Schwanz rannte sie mir nach und mit einem Satz war sie auch schon auf meiner Küchenablage und presste ihre Schnauze an das Blechgefäß. Gierig verschlang sie die Mahlzeit und verlangte Nachschlag. Als sie satt war, leckte sie sich genüsslich über die Schnauze und schaute mich dankbar an. Von dem Moment an verfolgte mich die kleine, zierliche Samtpfote wie ein Schatten auf Schritt und Tritt. Sie war sofort zutraulich und schmiegte sich auf dem Sofa an mich. Ständig suchte sie meine Körpernähe, wogegen Charly eher skeptisch alles von der Ferne beobachtete. Mir war schnell klar, dass dieses menschenbezogene Tier bestimmt schrecklich vermisst wurde. Selbstbewusst adoptierte sie mich und kennzeichnete mich als ihr Eigentum, während ich sie untersuchte und feststellte, dass sie ein Mädchen war und sich eine Zecke auf ihrem Kopf festgebissen hatte. Doch ich durfte ihr das Ungeziefer ohne Gegenwehr entfernen. Sie gab mir das Gefühl, als ob wir uns schon seit ewigen Zeiten kennen würden. Auch Charly zeigte Interesse, doch aufgrund seiner Faltohren war die Kleine sehr misstrauisch und hielt ihn mit ihrem Fauchen auf Distanz. Eingeschüchtert schlich er auf leisen Pfoten durch seine Wohnung immer mit einem Blick nach hinten gerichtet, ob er auch nicht verfolgt wurde. Er tat mir leid, aber irgendwie mussten wir dieses Wochenende zusammen überstehen, denn meine Tierärztin war erst wieder am Montag in der Praxis und ich hoffte inständig, dass die Kleine einen Chip implantiert hatte.

Der Unsichere
Mein Samstag war damit ausgefüllt das Verhalten der beiden Artgenossen zu beobachten und sie möglichst gerecht mit meiner Zuwendung zu beschenken. Das war nicht leicht, weil sich die Kleine ständig in den Vordergrund drängte und meine Aufmerksamkeit ganz für sich beanspruchen wollte. Auch beim Füttern musste ich darauf achten, dass sie möglichst weit getrennt voneinander ihr Mahl einnehmen konnten. Vor allem der unsichere Charly brauchte meine volle Unterstützung um ihm die Sicherheit zu geben, dass er während des Fressens auch ungestört bleibt. Bei den wenigen Begegnungen im engen Flur wurde ein bisschen geknurrt und gefaucht, was ich sofort durch meine Anwesenheit unterbinden konnte. Ansonsten wurde das Platzangebot mit Abstandsregelung eingehalten. Es ist bewundernswert wie es Tiere verstehen sich das Herz eines Menschen zu erobern. Vorausgesetzt natürlich der Mensch mag Tiere. Ich fing an das Kätzchen mit ihrem liebenswerten Charakter zu mögen, doch ich vermied es sie ganz darin einzuschließen, denn sie gehörte nicht zu mir und schon gar nicht zu Charly. Schließlich hätte er eine gehörige Portion Mitspracherecht, wenn es um einen neuen Mitbewohner/in in unserem Haushalt ginge. Trotzdem wollte ich sie irgendwie benennen und da viel mir ein, wie ich meine Joy immer nannte. Sie hatte den Kosenamen „Maus“ und so nannte ich jetzt auch meine Pflegekatze, wenn ich mit ihr sprach.

Neue Strukturen
Die erste Nacht teilte ich mein Bett mit der Maus und Charly hatte es vorgezogen im Wohnzimmer zu nächtigen. Das war nicht weiter schlimm, denn er schläft auch sonst nicht jede Nacht bei mir. Er schafft sich hin und wieder Abwechslung in Bezug auf bevorzugte Plätze. Am Sonntag verzichtete ich zugunsten des Hausfriedens auf meinen Waldspaziergang. Aber weil ich mir am Freitag eine Blase an die Ferse gelaufen hatte, viel mir die Entscheidung zu Hause zu bleiben leicht. Unser Tagesprogramm verlief ähnlich wie am Samstag mit dem Unterschied, dass allmählich das Zusammensein eine Struktur bekam. Die kluge Maus hatte schnell begriffen, was bei mir unerwünschtes Verhalten war und sie lernte sehr schnell. Charly musste ich immer wieder mit einbeziehen, damit er sich nicht zu sehr zurückzog. Die meisten Bedenken hatte ich Sonntagabend, weil ich am Montag zur Arbeit musste und die Beiden für drei Stunden am Vormittag alleine lassen. Die zweite Nacht war mein Bett auch wieder von einem schwarzen Pelz belegt. Am Morgen als ich aufbrach, hatte ich ein mulmiges Gefühl. Aber als ich sie so liegen sah, die Maus relaxt auf dem Sofa und Charly schnarchend auf dem Kratzbaum, ging ich ins Vertrauen, dass alles gut gehen wird. Beim Heimkommen lagen sie immer noch genauso da wie ich sie verlassen hatte.

Tierliebe – was ist richtig, was ist falsch
Leider bekam ich am Montag keinen Termin bei meiner Tierärztin und musste noch bis Dienstag warten. Meine Suche nach vermissten Katzen im Portal des Tierheims hatte auch nichts ergeben. Der dritte Tag war schon wesentlich entspannter. Die Maus kannte nach so kurzer Zeit bereits meinen Rhythmus und konnte schon ein bisschen meine Körpersprache lesen. Sie verfolgte mich auch nicht mehr auf Schritt und Tritt sondern war wesentlich ruhiger geworden. Am Nachmittag spielte sie das erste Mal mit Charlys Spielsachen und mein Kater sah ihr dabei zu. In dieser Nacht blieb sie auf dem Sofa und Charly nützte die Gelegenheit, wieder an meiner Seite im Bett seinen Bauch gekrault zu bekommen, während ich in meinem Buch las. Trotzdem spürte ich seine Verkrampftheit und bei jedem Geräusch zuckte er und schaute nach, ob die Maus in unsere Nähe kam. Am nächsten Vormittag konnte ich endlich die Kleine in die Transporttasche stecken und mit ihr zur Tierärztin. Ich war schon sehr gespannt und hoffte auf ein positives Ergebnis. Meine Mühe wurde prompt belohnt. Das Lesegerät zeigte einen Treffer und eine Chipnummer an. Ich war erleichtert. Dann ging alles ganz schnell. Die Besitzerin meldete sich und kurze Zeit darauf wurde die dreijährige Amara, die schon seit Anfang Dezember vermisst wurde, abgeholt. Die Freude war sehr groß und ich war ebenfalls glücklich über meine gute Tat. Doch die Tatsache, dass Amara bereits seit über sieben Wochen vermisst wurde, wirft bei mir Fragen auf, die für mich unverständlich sind. Amara muss von jemandem gefüttert worden sein, der es nicht in Betracht gezogen hatte, herauszufinden wo sie hingehört. So etwas kann ich einfach nicht nachvollziehen. Entweder ich füttere nicht, oder ich kümmere mich auch um die übrigen Umstände und Bedürfnisse des Tiers. Denn das ist für mich falsch verstandene Tierliebe. Wenn nun keine Zugehörigkeit von Amara festgestellt werden hätte können, hätte sie auch nicht bei mir dauerhaft bleiben können Charly hätte der Stress sicher seiner Gesundheit geschadet. Deshalb bin ich so froh und dankbar, dass sie gechipt war. Ich kann nur jedem/r Katzenbesitzer/in raten, dies zu tun. Sie in ein Tierheim zu geben, hätte ich sicher nicht über mein Herz gebracht und die Suche nach einem guten Platz hätte bestimmt noch viel Zeit in Anspruch genommen. Charly, kann ich nur sagen, ist sowas von erleichtert. Seine Anspannung ist direkt sichtlich von ihm abgefallen. Er bewegt sich nicht mehr auf Zehenspitzen und hat erst einmal stundenlang geschlafen.

Ich bin wirklich nicht darauf aus, jede Katze, die mich auf meiner Terrasse besucht zu füttern und hereinzulassen. Trotzdem hat mich mein Gefühl dieses Mal wieder nicht getäuscht, dass es sich um ein Tier handelte, das Hilfe brauchte. Irgendwie muss sich das in der Katzenwelt herumgesprochen haben, dass ich nicht wegschaue sondern zu- und hinhöre und solange Charly mitspielt werde ich immer helfen soweit meine Möglichkeiten reichen.
Eure Gisela mit Charly